Gedenkfeier für die Opfer des Todesmarsches in Seefeld
Ende April jährte sich zum 75. Mal das Ende des Todesmarsches von Häftlingen des KZ Dachau Richtung Alpenfestung. Die ursprünglich geplante große Gedenkfeier wurde aufgrund der Corona-Verordnungen am 19. Mai im sehr kleinen Rahmen abgehalten.
Gedenkrede von Niko Hofinger
anlässlich der Gedenkfeier für die Opfer des Todesmarsches von 1945
Seefeld, 19. Mai 2020
In den letzten Apriltagen 1945 befand sich die Welt, die man glaubte zu kennen, in Auflösung und Neuerfindung. In Berlin beging Adolf Hitler in seinem Führerbunker Selbstmord; Amerikanische Soldaten betraten geschockt das KZ Dachau; im befreiten Wien wurde bereits die erste österreichische Nachkriegsregierung gebildet. Jeden Tag überstürzten sich die Ereignisse an fast jedem Ort in Mitteleuropa – und Seefeld bildete da keine Ausnahme.
Am 28. April kam zu Mittag ein Zug mit Gefangenen im Bahnhof Seefeld an und mein Schwiegervater, ein alter Seefelder, war als 10jähriger Bub neugierig, was da passierte. Er ging mit seinen Kameraden zu den Zügen und kann sich dabei primär an zwei Dinge erinnern: Den armseligen Anblick, den die halb verhungerten Gefangenen abgaben und die ihm damals unheimliche Lethargie der sonst immer so schneidig auftretenden SS als Wachpersonal. „Man hat sich gar nicht mehr die Mühe gemacht, uns Burschen zu verscheuchen“, hat er mir letztes Wochenende erzählt.
Die Gefangenen und ihre Bewacher hatten an diesem Abend bereits eine mehrtägige Odyssee hinter sich, die noch von den Ereignissen der nächsten Tage in den Schatten gestellt werden sollte. Die Grausamkeiten in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern wurden oft nur noch von den Ereignissen auf diesen sogenannten Todesmärschen übertroffen. Im letzten Moment beschloss die NS-Führung stets, die Gefangenen eines KZs noch „irgendwo hinzubringen“, wo sie vielleicht noch der deutschen Kriegswirtschaft nützlich sein könnten. Die Dachauer SS entschied sich für eine Ausquartierung in das Phantom der Alpenfestung und die Rüstungsbetriebe im Tiroler Oberland.
In den letzten Wochen war in Tirol ja viel von der Operation Greenup zu hören; Amerikanische Spione hatten natürlich längst an ihr Oberkommando berichtet, dass die Alpenfestung nur eine hohle Phrase war, ein potemkinsches Verteidigungsfort, das weder Waffen noch Munition noch Personal hatte, um den von allen Seiten anrückenden Armeen ernsthaft Widerstand entgegensetzen zu können. Aber je unglaubwürdiger eine Hoffnung ist, umso wirkungsmächtiger scheint sie bisweilen zu sein. Viele hohe NS-Funktionäre glaubten, hier im Bergland sei man sicher vor der bereits für alle absehbaren Niederlage und dem Verschwinden des Tausendjährigen Reichs.
Das Dorf Seefeld selbst hatte wenig strategische Bedeutung, es lag halt wie immer auf dem Weg zwischen München und Innsbruck und war als Verkehrsachse mitten ins Geschehen dieser letzten Apriltage gerückt. Mein Lehrer Thomas Albrich hat die Ereignisse des Todesmarsches schon vor 25 Jahren minutiös nachgezeichnet. Herauf von Mittenwald, wieder hinunter nach Scharnitz, erneut zurück nach Seefeld, Gruppen, die über Seefeld gerade bis nach Mösern kamen, andere über Telfs bis Ötztal-Bahnhof. Kein einziger dieser Häftlinge hat auch nur eine halbe Stunde in einem vermeintlich kriegswichtigen Betrieb gearbeitet. All dies geschah nur zwei oder drei Tage bevor die amerikanischen Befreier aufs Plateau und weiter nach Innsbruck kamen und dem Spuk hier in Tirol ein Ende bereiteten.
Die Bewacher des Todesmarsches in die Alpenfestung hatten wenig Geduld mit ihren Gefangenen. Wer nicht mehr gehen konnte, wurde am Wegesrand zurückgelassen oder erschossen. So starben in dieser Woche noch mehrere Dutzend jüdische Häftlinge in und um Seefeld, und deshalb hat das völlig unjüdische Dorf Seefeld heute eine jüdische Abteilung in seinem Waldfriedhof.
Die eilig verscharrten oder schon provisorisch bestatteten Toten wurden in den Wochen und Monaten nach dem Krieg hier zusammengelegt.
Leider gibt es so gut wie keine Informationen, wer hier genau liegt. Es ist immer so viel schöner und interessanter, von jungen Männern, ihren Biographien, von ihrer Herkunft und ihren Familien erzählen zu können als von einer ungefähren Zahl an namenlosen Toten in einem Massengrab. Vielleicht werden noch Enkel und Urenkel nach Seefeld kommen, um uns von diesen Menschen berichten zu können; noch sind sie die 63 jüdischen Häftlinge aus dem KZ Dachau, von denen man sonst fast nichts weiß.
Der seit 1945 bestehende Friedhof hier wurde – auch unter Einbindung der Innsbrucker jüdischen Gemeinde – erstmals 1947 und dann 1949 so gut es ging gestaltet. Eine Ansichtskarte aus dieser Zeit zeigt das frisch angelegte Gräberfeld. Die Gestalter hatten wahrscheinlich nur die besten Absichten und wenig finanziellen Spielraum; aber natürlich war es keine wirklich gute Idee, so kurz nach dem Krieg eine Art Gemeinschaftsfriedhof für Soldaten auf der einen und KZ-Opfer auf der anderen Seite des Kiesweges zu bauen. Diese Spannung ist dem Ort bis heute erhalten geblieben.
Die Protokolle des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde Innsbruck zeigen in den folgenden Jahren ein bekanntes Bild: Friedhöfe machen mehr Arbeit, als man glauben möchte. Wenn man 20 Jahre nichts saniert und erneuert, muss man 10 Jahre lang die dabei entstandenen Schäden reparieren. Außerdem müssen solche Orte auch benannt und beschrieben werden. Hier wurde schon 1949 die erste Gedenktafel aufgestellt, sie ist später recht oft gescholten worden, weil das Datum nicht genau stimmte. 1970 kamen zwei neue Steintafeln mit hebräischen Inschriften hinzu. Die kleinen Schwarzkiefern wuchsen sich zu stattlichen Bäumen aus. Das Schwarze Kreuz platzierte völlig unsensibel eine Hinweistafel mit einem Kreuz mitten im jüdischen Totenfeld. Jeder wusste, das alles konnte man auf Dauer nicht so belassen. Die Israelischen Urlaubsgäste in Seefeld, die sich zunächst freuten, dass es hier einen jüdischen Friedhof gab, kamen verstimmt vom Grabbesuch zurück in ihre Hotels und schrieben Protestnoten an Behörden und die Innsbrucker Kultusgemeinde.
Schon lange war der damaligen Präsidentin Esther Fritsch klar, dass hier eine Neugestaltung nötig sein würde. Ich habe über die Jahre eine Reihe von Gestaltungsentwürfen gesehen, die dann entweder zu teuer oder aus anderen Gründen undurchführbar waren. Wie immer ist so ein jüdisches Gräberfeld anders zu behandeln, als man es sich als christlich geprägter Tiroler ausdenken mag: Die Totenruhe ist unter allen Umständen einzuhalten und was das für einen Umbau dieser Größenordnung bedeutet, kann man sich vorstellen. Schließlich gelang es Esther Fritsch, den Architekten der Innsbrucker Synagoge, den Seefelder Michael Prachensky an Bord zu holen. Sein Entwurf war der erste, der nicht nur inhaltlich passte, sondern auch durchführbar war. Die Finanzierung war nicht einfach, ist aber dank der Hilfe des Österreichischen Nationalfonds und der Gemeinde Seefeld gelungen.
So konnte im Herbst 2016 diese neue Anlage eingeweiht werden; die ausführliche Texttafel am Eingang liefert nun auch den historischen Kontext. Die Wurzeln der mannshoh abgeschnittenen Schwarzkiefern bleiben in der Erde, um die Ruhe der Toten nicht zu stören; die scheinbar wild durcheinander liegenden 63 Betonblöcke, in die der Davidstern eingegossen wurde, stehen als Ersatz-Grabsteine für die Toten der chaotischen und gewaltsamen letzten Tage des April 1945.
Mein Schwiegervater Fred Hager, der damals die Häftlinge im Bahnhof Seefeld ankommen gesehen hat, kann sich auch noch an eine Episode erinnern, die mir mittlerweile auch aus der betreffenden Familie selbst bestätigt wurde: So habe sich ein entflohener jüdischer Häftling im Kohlenkeller der Bäckerei Köhle versteckt. Der Hausherr hat ihn nicht ausgeliefert, sondern mit neuen Kleidern ausgestattet und an einen sicheren Ort gebracht. Die Leute hatten hier wie anderswo genug vom Krieg und in diesem erfreulichen Fall auch Mitleid.
Seit kurzem gibt es ja eine ausgezeichnete Publikation zu Seefeld in der NS-Zeit von meiner Kollegin Sabine Pitscheider. Diese ermöglicht es nun den Seefelderinnen und Seefeldern, sich über dieses singuläre und ganz eindeutig von außen hereingetragene Ereignis des Todesmarsches hinaus zu fragen, welche Rolle der Ort und seine Bewohnerinnen und Bewohner im Nationalsozialismus gespielt haben. Es ist wichtig, hinzusehen und die Dinge beim Namen zu nennen. Nur so kann eine reflektierende Auseinandersetzung mit Unrecht, Verfolgung und Terror stattfinden. An diesem Ort, dem jüdischen Gräberfeld im Waldfriedhof von Seefeld, scheint das bereits gelungen zu sein.